Das BMWSB stellt klar, dass seine Erlasse nur für das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung sowie die Länderbauverwaltungen verbindlich sind, soweit diese in Organleihe Bauaufgaben des Bundes wahrnehmen. Für die Länderbauverwaltungen besteht keine Verbindlichkeit, es sei denn, die Länder übernehmen die Regelungen des Bundes für ihren Zuständigkeitsbereich. Gleiches gilt für Kommunen, soweit die Länder diesen nicht die Anwendung des Erlasses empfehlen. Des Weiteren soll mit dem Erlass die VOB/A nicht geändert werden, vielmehr handelt es sich bei dessen Ausführungen um eine Auslegung des geltenden Vergaberechtes, die nur für die Adressaten des Erlasses Bindungswirkung hat.
Aus hiesiger Sicht bleibt trotz dieser einschränkenden Klarstellungen festzuhalten, dass die Erlasse des BMWSB in Bezug auf die Auswirkungen des Ukrainekrieges richtige Feststellungen zur Sach- und Rechtslage enthalten, die unabhängig davon, wer Adressat der Erlasse ist, rechtlich belastbar sind. Dies betrifft insbesondere die Feststellung aus dem Erlass vom 25.03.2022, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine um ein Ereignis höherer Gewalt handelt und dass dessen Auswirkungen zu einer Störung der Geschäftsgrundlage bei bereits bestehenden Vertragsverhältnis führen können.
2. Stoffpreisgleitklauseln bei neuen Vergabeverfahren
Im Schreiben vom 22.06.2022 wird klargestellt, dass Stoffpreisklauseln auch in Bezug auf solche Stoffe vereinbart werden sollen, die im Erlass vom 25.03.2020 nicht ausdrücklich benannt waren, die jedoch nachweislich ungewöhnlichen Preisveränderungen ausgesetzt sind. Des Weiteren sollen Stoffpreisklauseln bereits dann vereinbart werden, wenn der Stoffkostenanteil des betroffenen Stoffes 0,5 % der geschätzten Auftragssumme beträgt und wenn die geschätzten Kosten für diesen Stoff einen Betrag von € 5.000,00 überschreiten. Soweit Verbundbaustoffe verarbeitet oder in den Textbausteinen des Standardleistungsbuchs in einer Position mehrere der benannten Stoffe zusammengefasst werden und der Aufwand zur Ermittlung der einzelnen Stoffanteile unverhältnismäßig ist, kann auf den Stoff mit dem höchsten Stoffanteil innerhalb des Verbundbaustoffs oder der Ordnungsziffer abgestellt werden.
Mit dem Schreiben vom 22.06.2022 wird ein neues Formblatt Nummer 2 zu 5a eingeführt, mit dem auf die Angabe des Basiswertes 1 verzichtet wird. Als Grundlage für die Preisfortschreibung soll auf die im bezuschlagten Angebot angegebenen Stoffpreise zurückgegriffen werden. Diese Stoffpreise werden dann mit den Indexwerten zum Zeitpunkt des Einbaus/Lieferung verglichen, um die auszugleichende Differenz zu ermitteln. Leider hält das BMWSB hier weiter an Indexwerten fest, anstatt auf die tatsächlichen Einkaufspreise der Auftragnehmer abzustellen.
3. Umgang mit bestehenden Verträgen
Als bestehende Verträge sollen alle Verträge gelten, die bis zu 14 Kalendertage nach dem Kriegsausbruch (d. h. vor dem 11. März 2022) abgeschlossen wurden. Was die von Auftragnehmern begehrte Verlängerung von Vertragslaufzeiten angeht, sollen an den Nachweis der momentanen Nichtverfügbarkeit von Materialien keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Sofern der Mangel nicht verwaltungsseitig bekannt ist, kann der Nachweis beispielsweise durch Vorlage von Absageschreiben von drei Baustofflieferanten geführt werden.
Was die von Auftragnehmern begehrte Preisanpassung nach § 313 BGB angeht, so ist dies von der Bauverwaltung weiterhin im Einzelfall zu entscheiden. Wenn die Bauverwaltung eine Preisanpassung gewähren will, sollen dabei keine zusätzlichen Abzüge (z. B. in Form eines Selbstbehaltes) erfolgen. Das Schreiben vom 22.06.2022 enthält hierzu ein hilfreiches Praxisbeispiel, das wie folgt zitiert wird:
Im konkreten Einzelfall erscheint nach Auffassung der Bauverwaltung eine Stoffkostensteigerung von über 15 % als dem Unternehmen nicht zumutbar; mangels anderer Anhaltspunkte soll die Kostensteigerung zwischen Auftraggeber und Unternehmen geteilt werden. Der im Februar 2022 kalkulierte Stoffpreis des Unternehmens ist 100 Euro, der tatsächliche Preis 200 Euro. Aufgrund der vereinbarten Menge übersteigen die Mehrkosten damit die nicht zumutbare Erhöhung deutlich. Der den Angebotspreis übersteigende Differenzbetrag von 100 Euro wird geteilt, der Auftragnehmer erhält also für das Material 100 + 50 = 150 Euro/Einheit für die nach dem 24. Februar 2022 (Kriegsbeginn) ausgeführten Leistungen. Ein weiterer Abzug in Form eines Selbstbehaltes erfolgt nicht, durch die hälftige Beteiligung des AN an der Preissteigerung ist bereits ein Selbstbehalt verwirklicht.
4. Einbeziehung von Stoffpreisgleitklauseln in vor Kriegsausbruch geschlossene Verträge
Soweit eine Stoffpreisgleitklausel in einen schon bestehenden Vertrag einbezogen wird, ist dies nach dem Erlass vom 25.03.2022 nur zulässig, wenn noch nicht 50 Prozent der vereinbarten Leistungen erbracht wurden. Des Weiteren sollen nur solche Preissteigerungen einer Gleitung unterliegen, die nach Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 eingetreten sind.
5. Geltung für Rahmenvereinbarungen
Schließlich wird im Schreiben vom 22.06.2022 klargestellt, dass eine mögliche Unzumutbarkeit i. S. d. § 313 BGB für den Unternehmer durch die nachträgliche Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln in Bezug auf die noch ausstehenden Einzelaufträge beseitigt werden kann.
Alles in allem hat das BMWSB mit dem Erlass von 25.03.2022 und den Klarstellungen/Ergänzungen aus dem Schreiben vom 22.06.2022 in angemessener Weise auf die Auswirkungen aus dem Ukrainekrieg reagiert. Umso unverständlicher und bedauerlicher ist es, dass nur wenige Bundesländer/Kommunalverwaltungen diesem Beispiel gefolgt sind, und analoge Regelungen erlassen haben. Aus hiesiger Sicht kommt es aber auf die zutreffenden rechtlichen Wertungen an, auf die man sich als Auftragnehmer/Bieter gegenüber den Vergabestellen und Auftragnehmern beziehen kann.
Dr. Ulrich Dieckert
Rechtsanwalt